This text is the second part of the project:
gewesen/geworden
Den “Butter-Biss” nenne ich eine meiner bis heute intensivsten Erinnerungen aus dem frühen Kindesalter. Am Abend dieses Ereignisses half ich meiner Mutter beim Tischdecken und sollte die Butter auf den Tisch bringen. Sie war noch unberührt, glänzend und frisch aus der Packung lag sie in unserem weinroten Butterbehältnis und ich konnte dem Drang, meine zwei Milchschneidezähne in sie hineinzurammen kaum widerstehen. Als ich außer Sichtweite meiner Mutter war, gab ich ihm nach und gönnte mir einen guten Bissen Butter. Etwas enttäuscht von dem tatsächlichen Geschmack der köstlich aussehenden Butter, stellte ich sie auf den Esstisch, freute mich aber gleichzeitig, dass meine Mutter von meinem heimlichen Vesper scheinbar nichts mitbekommen hatte. Zu früh gefreut, denn als wir dann zu zweit am Esstisch saßen, brach sie in Lachen aus und fragte: “Maxie? Hast du in die Butter gebissen?”, was mich zutiefst schockierte, denn sie hatte mich dabei schließlich nicht gesehen. Dass es an den Bissspuren lag, die meine Zähne in der zuvor makellosen Butter hinterlassen hatten, verstand ich erst später. Dieser Moment ist tief in meinem Gedächtnis verankert und hält mich bis heute davon ab, in Butter zu beißen. Womöglich verdanke ihr auch ein gewisses Bewusstsein dafür, dass meine Taten noch beobachtbar sind, nachdem ich sie begangen habe. Obwohl sie nur an der Oberfläche kratzt, lässt sich anhand dieser Anekdote gut erkennen, inwiefern unsere Erinnerungen an alle möglichen Erfahrungen, also die episodische Komponente unseres Langzeitgedächtnisses, uns noch lange beeinflussen kann und ausmacht, wer wir sind.
Der Verlust eben dieses episodischen Gedächtnisses des Protagonisten Giambattista Bodoni, auch Yambo genannt, nach einem Unfall ist ein Hauptthema des Romans “Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana” von Umberto Eco. Direkte Konsequenzen dieser partiellen Amnesie sind die Orientierungslosigkeit und die Unselbstständigkeit Bodonis, der sich weder an seine nächsten Angehörigen, noch an sich selbst erinnert. Da sein semantisches Gedächtnis intakt ist, verfügt der belesene Bodoni jedoch noch über ein enormes Allgemeinwissen, das ihm als einzige Orientierung im Nebel des Vergessens dient. Schon wenige Wochen nach seinem Erwachen findet er sich wieder einigermaßen in seinem Leben zurecht, er erkundet seine Wohngegend und seinen Arbeitsplatz, lernt die eigenen Familienmitglieder und Freunde von Neuem kennen und erfährt durch diese Begegnungen auch einiges über das Leben, das er bisher geführt hat. Gelöst ist die Problematik seiner verlorenen Erinnerungen damit jedoch noch nicht, sein episodisches Gedächtnis beschränkt sich nun auf die Zeit nach seinem Erwachen und in vielen Situationen fehlt ihm ein emotionaler Bezug, beziehungsweise die Möglichkeit, sich damit zu identifizieren. Beispielsweise berichtet er von den Spieleabenden mit seiner Frau, seinem besten Freund und seinen Enkelkindern nur auf nüchterne Art, dass sie behaupten, Scrabble sei sein Lieblingsspiel und dass ihm das Bilden der Wörter leichtfalle. Er bemerkt zwar, dass er in Scrabble gut ist, jedoch nennt er selbst es nicht mehr sein Lieblingsspiel, mutmaßlich weil er keinen Zugriff auf Erinnerungen an das Spielen dieses und anderer Spiele hat, die ihm als Vergleichsbasis dienen könnten.
Sich nicht mehr an sein Lieblingsspiel erinnern zu können mag trivial sein, aber was, wenn man auch seine Lieblingsessen, sein Lieblingslied und seine Meinungen zu allem möglichen nicht mehr kennt, da diese Einschätzungen auf Erfahrungen beruhen, an die man keine Erinnerung mehr hat? Der Verlust Bodonis episodischen Gedächtnisses bedeutet gleichzeitig, dass sein jahrzehntelanger, ja lebenslanger Prozess der Identitätsbildung, beim Zeitpunkt seines Erwachens beinahe auf null gesetzt wurde und neu beginnt. Durch sein bestehendes semantisches Gedächtnis und den Umstand, dass er sich in einem Umfeld und sozialen Strukturen einlebt, die denen vor seinem Koma stark ähneln, ist seine frisch begonnene Identitätsbildung bereits von seinem früheren Selbst beeinflusst. Außerdem bestehen die Teile der Identitätsbildung, die mit dem (frühkindlichen) Gehirnwachstum geschehen, fort, was ihn von Neugeborenen, die ebenfalls am Anfang ihrer Identitätsbildung stehen, stark unterscheidet. Trotzdem ist der Eingriff in seine Identität radikal und mit diesen Gedanken im Hinterkopf ist es bei weitem weniger verwunderlich, dass Bodoni, der sich auch körperlich noch von seinem Unfall erholt, bewusst seine Gesundheit aufs Spiel setzt, um seine Erinnerungen zurückzuerlangen. Geradezu besessen von der Suche nach Spuren seines eigenen Lebens, verbringt er Tage auf dem Dachboden, ernährt sich ungesund, trinkt und raucht. Diese Fahrlässigkeit seiner eigenen Gesundheit und damit auch seinen sehr um sein Wohl besorgten Angehörigen gegenüber, kann als Indiz dafür gesehen werden, dass er mit seinem Leben, obwohl es sehr bequem ist, nicht besonders viel anfangen kann, da ihm der emotionale Bezug dazu fehlt.
Meine Installation ergründet den Zusammenhang zwischen Erlebtem und Identität, also dem, was gewesen ist und dem, was daraus geworden ist. Gewesen und geworden, je ein Wort ist auf die beiden Leinwände gestickt, lesbar sind sie nur von den zur Wand gekehrten Seiten. Die Verbindung dazwischen wird durch dünne Fäden hergestellt, die aus manchen Winkeln kaum sichtbar sind. Die Fäden verbinden die beiden Leinwände miteinander, wir unsere Erinnerungen uns zu unserer Vergangenheit verbinden. Manche sind von einer Leinwand abgerissen und hängen nun auf anderen Erinnerungsfäden, wodurch sie nur noch indirekt die beiden Leinwände verbinden. Das hat mich an Vergessenes, also verlorene Erinnerungen erinnert, die unser Verhalten immer noch beeinflussen, indem sie uns zu einem früheren Zeitpunkt, zu dem wir sie noch hatten, zu einer Folgerung geführt haben, an die wir uns jetzt noch erinnern und die unser Verhalten beeinflusst. Dadurch wird die Thematik, dass Erfahrungen nicht gleich Erinnerungen sind und wir auch von Dingen geprägt sind, an die wir uns aktiv nicht mehr erinnern, eingebunden. Da ich ausschließlich weißen Faden verwendet habe, entsteht der Eindruck, dass sie von der weißen Leinwand zur Schwarzen reichen, die für das Gewordene steht und nicht etwa von beiden Seiten zueinander. Schließlich verhält es sich mit unseren Erinnerungen auch so, dass sie uns mit dem Gewesenen verbinden, das Einfluss auf jetziges Selbst hat, allerdings lässt sich das nicht umkehren, denn unsere Erinnerungen bieten uns keinen Eingriff in die Vergangenheit. Darum ist auch die Seite des gewordenen Selbsts, die Schwarze, nach innen, also sozusagen mit Blick auf die Vergangenheit gerichtet, während die Vergangenheit sich gewissermaßen entblößt, da die Innenseite der Leinwand exponiert ist. Insgesamt habe ich intuitiv gearbeitet und auch Ideen eingebunden, die mir noch während des Prozesses gekommen sind.